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Shabda
10 Februar 2024
Tags: Zen
Nehmen wir einmal an, wir sehen jemanden, der – verdientermaßen oder unverdient – in dem Ruf steht, er sei »spirituell sehr weit entwickelt«. So oder ähnlich wird so etwas gewöhnlich genannt. Erkrankt ein so bezeichneter Mensch dann unerwartet an einer starken Grippe, schütteln die Leute den Kopf und sagen: »Wenn Sowieso wirklich auf einer hohen spirituellen Entwicklungsstufe stünde, würde er eine solche Krankheit doch gar nicht bekommen.«

 
Wir haben die merkwürdige Vorstellung, dass wahrhaft spirituelle Menschen aus Gusseisen sein müssen, dass sie nicht empfindlich sein dürfen und dass es deshalb möglich sein muss, sie zu verprügeln, ohne dass sie auch nur mit der Wimper zucken. Doch schon der berühmte Sechste Patriarch des chinesischen Ch’an (Zen) hat gesagt, man müsse lernen, zwischen einem lebenden Buddha und einem Buddha aus Stein zu unterscheiden, denn wenn ein Buddha einfach jemand wäre, dem nichts etwas ausmache, wären auch Holzklötze und Felsbrocken Buddhas. Möglicherweise sind sie das sogar, aber diesen Aspekt meinte der Sechste Patriarch nicht. Ihm ging es darum, darauf hinzuweisen, dass der spirituellen Entwicklung die Überzeugung nicht förderlich ist, das wichtigste Ziel im Leben sei, in keiner Situation verletzlich zu sein, weil man dadurch im Grunde nur einem Felsbrocken ähnlich wird.

 
Mit absurden Diskussionen und Ansichten dieser Art wird man sehr häufig konfrontiert, wenn man so viele »spirituell engagierte« Menschen so gut kennt wie ich. Ich höre immer wieder Geschichten über Menschen, die darauf beharren, dass »mein Guru besser ist als deiner«. Solche Streitigkeiten werden bis zur Unerträglichkeit fortgesetzt, ganz gleich, ob es um »meinen Priester«, »meine Kirche«, »meine Gesellschaft« oder »meine Organisation« geht. Ich habe schon die unglaublichsten Argumentationen dieser Art gehört, und ich habe unzählige Male Beschwerden darüber gehört, dass irgendwelche Lehrer und Gurus schreckliche Dinge täten oder dass dieser oder jener Zen-Meister Anhänger dazu gebracht habe, dies oder jenes zu tun. Oder wir hören von Yogis, die sich betrinken, mit ihren Studentinnen schlafen, das Glücksspiel lieben oder zu schnell mit dem Auto fahren.

 
Viele »spirituelle« Menschen sind in Wahrheit Krypto-Protestanten und glauben immer noch fest an die protestantische Ethik. Sie fällen unablässig Urteile, obwohl der Begründer der christlichen Religion gesagt hat: »Verurteilt nicht, damit auch ihr nicht verurteilt werdet.«

Alan Watts
 


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